Das eigene, fiktionale Leben

Von einem Mann zu schreiben, der niemals gelebt habt, zeigt die Wichtigkeit einer Person. Die fiktionale Figur Sherlock Holmes hat ein eigenes Leben, das durch Sherlockianer erforscht und in den kleinsten Stücken biographisch erfasst wird. Das Buch The Life and Times of Sherlock Holmes begleitet diesen Weg der Figur und veranschaulicht, welches Ausmaß das Spiel (“the game”) angenommen hat.

Das Buch startet im Vorwort bereits mit einer Anekdote, die die Dimension verdeutlicht:

“It has reasonably been claimed that more foreign visitors to London know the address of Sherlock Holmes than know that of the Prime Minister: yet Sherlock Holmes never existed” (p. 7)

Es gibt mehr Leute aus dem Ausland, die die Adresse von Sherlock Holmes kennen als die des Premierministers. Doch Sherlock Holmes hat nie existiert.

5 Stationen aus dem Leben von Holmes

Wer kennt sie nicht, die berühmteste, fiktionale Adresse der Welt: 221B. Sie ist nur eine der zahlreichen Markenzeichen des Detektivs. The Life and Times of Sherlock Holmes zeichnet verschiedene Stationen aus dem Leben des Detektivs nach, die für eine fiktionale Figur erwähnenswert ist:

  1. Geburt (Birth)
  2. Das Erwachsenwerden (Early Growth)
  3. Tod (Death)
  4. Phänomen (Phenomenon)
  5. Zukunft (Future)

Die ersten drei Stationen sind für uns Normalsterbliche ebenso relevant, wie für jeden anderen auch. Das Nachleben wird in den letzten beiden Stationen als das Vermächtnis von Sherlock Holmes bezeichnet. Ähnlich wie bei einem Künstler, wird dieser erst post-mortem berühmt und das “Phänomen” entsteht nach und nach. Das Buch The Life and Times of Sherlock Holmes möchte diese Leitfrage beantworten und darstellen, wie das Phänomen “Sherlock Holmes” entstanden ist und wie eine mögliche Zukunft aussehen kann:

“What is the fascination which this apparently fictional character holds, and has held for many decades, for those who are his dedicated followers?” (p. 7)

Inhalte des Buches

Inhaltlich orientieren sich Weller und Roden auf verschiedene Bereiche, die mit der Figur Sherlock Holmes zu tun haben. Angefangen mit biographischen Fakten aus dem Kanon, die die schulische Karriere und seine ersten Tätigkeiten als Detektiv beleuchten, geht dieser Abschnitt über in das Umfeld von Sherlock Holmes: Holmes und Verbrechen, Holmes und Kommunikation und schließlich Holmes und Transportwege. Unterstützt wird der Abschnitt durch zahlreiche viktorianische Illustrationen und Fotos. Es entsteht eine biographische Erfassung durch den Kanon von Sir Arthur Conan Doyle, der durch die zahlreichen Kurzgeschichten Hinweise über die Vergangenheit gestreut hat.

Dies wird an diesem Beispiel deutlich: In The Greek Interpreter beschreibt sich Sherlock Holmes als eine Nachfahre eines ländlichen Gutsbesitzers (country squire) und als Enkel von einer Schwester des französischen Künstlers Vernet (S. 19).

Die Welt des Sherlock Holmes spielt sich, laut Weller und Roden, in den sherlockianischen Gesellschaften ab, die es überall in der Welt gibt. Wenn also von dem Spiel (“the game“) die Rede ist, dann gehen Sherlockianer davon aus, dass Sherlock Holmes eine reale Person und John H. Watson sein realer Biograph ist. Auch wenn es Unstimmigkeiten in dem Kanon von Sir Arthur Conan Doyle gibt, betreiben Sherlockianer die Texte wie wissenschaftliche Arbeiten, aus der neue Erkenntnisse gewonnen werden (S. 39).

Das Phänomen Sherlock Holmes macht sich auch in Form von sogenannten Collectables, also Sammelstücken, deutlich. Weller und Roden zeigen dabei unterschiedliche Bereiche auf, die von Originalmanuskripten, Kanon-Editionen über Magazine, Filmposter  und Fotografien reichen kann. Weller und Roden sehen in Sammelstücken eine Chance des Investments, da Wertsteigerungen zu einzelnen Manuskripten und Fundstücken möglich sind  (S. 51-61).

Das Herzstück des Buchs

Das Herzstück des Buchs stellt der Abschnitt The Canon: Summaries of the Stories dar, bei der alle 56 Kurzgeschichten und die 4 Romane zusammengefasst werden. Dabei werden sowohl der Veröffentlichungstermin und die Hauptfiguren (neben Sherlock Holmes und John H. Watson) genannt. Eine grandiose Zusammenstellung und ein Basisnachschlagewerk, wenn einem wieder Gedächtnislücken eines Abenteuers von Sherlock Holmes heimsuchen. Diese Zusammenfassung allein machen über 50 Seiten des Buches aus. Zu den einzelnen Geschichten werden die wichtigsten Illustrationen von Paget und co. gezeigt und zusätzliche Filmszenen hinzugefügt (frühe Versionen wie Eille Norwood, William Gillette…). Jede Kurzgeschichte bekommt ungefähr eine halbe bis ganze Seite. Jedoch bei weniger bekannteren Geschichten kann es auch weniger sein.

Ohne den Erschaffer geht es nicht!

Ein Buch über Sherlock Holmes ohne den Erschaffer ist nahezu unmöglich. Daher bietet das Buch ebenfalls eine kurze Biographie über Sir Arthur Conan Doyle, die verschiedene Stationen seines Lebens kompakt zusammenfassen. Stationen wie die familiäre Situation, seine ersten Veröffentlichungsversuche des Romans The Study in Scarlet oder auch sein Spiritualismus sind nur einige nennenswerte Themen. Zahlreiche Originalfotos unterstützen den Text hilfreich.

Abschließend gibt das Buch noch die allgemein gültigen Abkürzungen der Sherlock Holmes Abenteuer und ausgewählte Literaturhinweise, für weitere Nachforschungen.

Das Fazit

Das Buch The Life and Times of Sherlock Holmes von Philip Weller und Christopher Roden ist ein typisches Buch für Einsteiger in die Welt des Sherlock Holmes. Es bietet nahezu alle wichtigen Grundlagen wie:

Gerade diese Grundlagen sind es, die dieses Buch lesenswert macht und seinen Horizont erweitern lässt. Insbesondere der Abschnitt über alle 56 Kurzgeschichten und 4 Romane, die übersichtlich zusammengefasst wurden, machen dieses Buch zu einem exzellenten Nachschlagewerk. Auch wenn das Erscheinungsjahr von 1993 bereits einige Jahre zurückliegt, ist es insbesondere spannend, wie sich die Zukunft um Sherlock Holmes weiter entwickeln wird.

Der Abschnitt über die Biographie über Sherlock Holmes kann jedoch als zweischneidiges Schwert angesehen werden. Die zahlreichen Verweise aus dem Kanon belegen unterschiedliche Stationen aus dem Leben des Detektivs, jedoch kursieren unterschiedliche Ansichten über die Biographie des Detektivs (siehe Biographie von Baring-Gould oder Rennison) und damit unterschiedliche Jahreszahlen. Weller und Roden stellen dabei aber eine belegbare Biographie über Sherlock Holmes durch seine Fälle dar.

   

(4 von 5)


Quelle:

Weller & Roden. 1993. The Life and Times of Sherlock Holmes. Bracken Books, London.

Alle fotografierten Bilder dienen ausschließlich zu Vorführungszwecken und sollen den Inhalt beispielhaft widerspiegeln.


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