Was haben The Lion’s Mane und The Blanched Soldier gemeinsam? Richtig, beide Abenteuer sind nicht vom Biografen Dr. Watson geschrieben, sondern aus der Sicht von Sherlock Holmes. Holmes Entangled benutzt diese Sichtweise ebenso, geht aber einen komplett anderen Weg eines Pastiches. Wie kann es sein, dass Sherlock Holmes auf Sir Arthur Conan Doyle trifft? Wer ist die neue Begleitung an Holmes’ Seite?

> Über den Autor

Gordon McAlpine war nominiert für den bekannteren Edgar Award für sein Werk Woman with a Blue Pencil. In Kalifornien lebend, schreibt McAlpine keineswegs über Sherlock Holmes. Holmes Entangled ist bisher sein einziger Sherlock-Holmes-Roman. Sein Fokus liegt deutlich auf Edgar Allan Poe und schrieb eine Trilogie über die Misadventures of Edgar and Allan Poe. Kein Zufall, dass Poe auch eine zentrale Rolle in Holmes Entangled spielt. Außerdem unterrichtete er kreatives Schreiben und Literatur an der University of California.

> Weitere Werke des Autors

Wie bereits erwähnt ist Holmes Entangled das einzige Werk von McAlpine mit einem Bezug zu Sherlock Holmes. Weitere Werke sind daher nur zu nennen:

> Inhaltliche Zusammenfassung (Spoilerfrei)

„Sherlock Holmes, now in his seventies, retired from investigations and peaceably disguised as a professor at Cambridge, is shaken when a modestly successful author in his late-sixties named Arthur Conan Doyle calls upon him at the university. This Conan Doyle, notable for historical adventure stories, science fiction, and a three-volume history of the Boer War (but no detective tales), somehow knows of the false professor’s true identity and pleads for investigative assistance. Someone is trying to kill Conan Doyle. Who? Why? Good questions, but what intrigues Holmes most is how the “middling scribbler” ascertained Holmes’s identity in the first place, despite the detective’s perfect disguise. Holmes takes the case.

There is danger every step of the way. Great powers want the investigation quashed. But with the assistance of Dr. Watson’s widow, Holmes persists, exploring séances, the esoterica of Edgar Allan Poe, the revolutionary new science of quantum mechanics, and his own long-denied sense of loss and solitude.“ (Rückseite des Buches)

Grundsätzlich kann Holmes Entangled folgendermaßen beschrieben werden: Sherlock Holmes ist 73 Jahre alt / Watson ist bereits verstorben / Holmes ist als Professor verkleidet an mehreren Universitäten tätig / Sherlock Holmes trifft auf Conan Doyle / Doyle soll getötet werden

Man kann hier bereits erahnen, dass es sich nicht um den typischen Pastiche handelt, bei der ein plötzlicher Klient in die Baker Street kommt. Denn die größte Änderung im Gegensatz zum Kanon und vielen Pastiches liegt in der Sicht des Erzählers: Sherlock Holmes ist der Biograf. Ist das nicht schon ein paar Mal schief gegangen? Vergleiche z.B. The Lion’s Mane oder The Blanched Soldier… Nein, das darf man nicht gleich verurteilen.

1/3

Das erste Drittel von Holmes Entangled befasst sich mit der Lebenssituation von Holmes. Doch vor der eigentlichen Handlung gibt es einen Prolog, der in Buenos Aires 1943 spielt. Ein Manuskript wird gefunden. Geschrieben von Sherlock Holmes. Ein gewisser Señor Borges findet das Manuskript mit dem Namen Uncertainty – a true account by Sherlock Holmes.

Weiterhin wird das geheimnisvolle Leben von dem alten Holmes nach dem Tod von Watson erläutert. Als Erzähler der Geschichte bietet uns Holmes zusätzliche Einblicke in seiner Denkweise und den Meinungen zu den Abenteuern mit Watson (dazu später mehr!). Das geheime, akademische Leben verbringt Sherlock Holmes als Professor Heinrich von Schimmel. Doch dieses geheime Leben wird von Conan Doyle schnell enttarnt.

2/3

Das zweite Drittel erläutert dann den eigentliche Fall. Um nicht den ganzen Inhalt von Holmes Entangled zu spoilern, gibt es hier nur einige Rahmenbedingungen und kurze Stichwörter. Conan Doyle soll getötet werden. Eigentlich ist der Premierminister Stanley Baldwin tot. Doch warum hat Conan Doyle ihn in Form eines Geistes gesehen? Gesehen wurde er auf einer Séance (spiritistischer Sitzung mit mehreren Personen).

Der treue Begleiter Watson ist tot. Lange lebe die neue Begleiterin Watson. Gemeint ist die Witwe Mrs. Watson, die Holmes in Holmes Entangled begleitet. Genau die Beiden sind es, die sich dem Fall annehmen. Weitere Stationen in diesem Drittel sind dann das Besuchen einer dieser Séances (natürlich verkleidet), die mysteriöse Madame DuLac und eine geheime Gesellschaft. Wissenschaftlich wird dies argumentiert durch die sogenannte The Copenhagen Interpretation. Na, kryptisch genug? Gerade im Mittelteil gibt es noch viele Stationen, die aufgrund von Spoilern nicht in Gänze dargestellt werden.

3/3

Im letzten Drittel kommt dann noch Mycroft Holmes dazu, der um die 80 Jahre alt ist. Es gibt hitzige Debatten im Diogenes Club über das Wohl des Königreichs, dem Umgang mit Conan Doyle und natürlich der Auflösung des Falls. Spannend sind auf jeden Fall noch die letzten Debatten und Diskussionen mit Mrs. Watson über philosophische Grundfragen. Zentral ist aber ganz klar die Darstellung und Außenwirkung von Conan Doyle als public figure, also als öffentliche Person.

> Hauptfiguren

Während viele Pastiches eine Vielzahl an Figuren haben, konzentriert sich Holmes Entangled auf einige wenige Figuren. Das tut nicht nur dem ganzen Roman gut, sondern lässt die Figuren tiefgründiger und vielschichtiger erscheinen. Natürlich haben wir als Hauptfiguren Sherlock Holmes und Mrs. Watson, die die Fall um Conan Doyle aufklären. Gerade die Unterhaltungen und Gespräche zwischen den Beiden war definitiv ein Highlight in den Roman. Tiefgründig, viele Referenzen zu dem Kanon, der traurige und melancholische Verlust von Dr. Watson aber auch Witz war dabei.

Spannend sind auch die vielen Nebenfiguren bzw. Nebenpersönlichkeiten, die Holmes Entangled verwendet: neben Conan Doyle auch Edgar Allan Poe oder auch Ernest Hemingway. Während Hemingway nur einen „Gastauftritt“ hat, spielt Edgar Allan Poe eine zentrale Rolle. Der bissige Mycroft Holmes am Ende bietet dann noch einen zusätzlichen Kampf zwischen Sherlock und Mycroft. Auch ebenfalls sehr gelungen.

Insgesamt betrachtet sind insbesondere die Beziehungen zwischen den Figuren ausgesprochen gut gelungen: Holmes – Mrs. Watson / Holmes – Conan Doyle / Holmes – Mycroft. Die Beziehung wird an einigen Zitaten später noch deutlich werden. Jedoch ist die Mischung sehr gelungen: neue Ansätze von McAlpine gepaart mit Referenzen und Anspielungen zum Kanon. Und damit meine ich nicht das übliche „The Game’s Afoot“.

> Schreibstil nach Conan Doyle

Ich finde es schwierig über den Schreibstil hier nach diesem Schema à la Doyle zu schreiben. Holmes ist der Erzähler der Geschichte, somit ist ein Vergleich zu klassischen Pastiches, in der Watson der Erzähler ist, nicht angebracht. Doch wie schreibt denn ein Sherlock Holmes?

Aufgrund der Erzählperspektive schwierig zu beurteilen…

Ist vielen Teilen und Abschnitten kompliziert. Man merkt deutlich einen „modernen“ Bezug vom Autor McAlpine. In vielen Abschnitten mit vielen wissenschaftliche Begriffen (The Science of Many Worlds / The Copenhagen Interpretation / Univers parallèle) bestückt, ist der Roman nicht einfach geschrieben. Trotzdem merkt man den kreativen Hintergrund des Autors deutlich. Wortwahl, Flüssigkeit und Satzstruktur sind passend für Sherlock Holmes eingesetzt und an den meisten Stellen kann ich mir gut vorstellen, dass Holmes so schreiben würde.

Nun aber noch drei Zitate, die den Schreibstil und die Beziehungen der Figuren verdeutlichen sollen:

“I have found these past years that I usually can pass through crowds without being recognized merely by not wearing a deerstalker, which has become widely, if inaccurately, associated with me (…)“ (S. 46)

Ein klare Anspielung von Sherlock Holmes über seinen Deerstalker, den er kaum getragen hat.

“(…) I wanted to conform that I could still be the Sherlock Holmes I had once been. The consulting detective.“ ( S. 44)

Ich finde dieses Zitat spielt den Ton des Romans gut wider. An vielen Stellen von Holmes Entangled ist Holmes melancholisch und betrübt über sein Alter. Auch beklagt er sich darüber, dass Watson in seinen Abenteuern falsch dargestellt hat und macht dies direkt am Anfang deutlich. Endlich wird die Wahrheit erzählt.

„I never was a Victorian gentleman“ (S. 19) / „I was not who he thought I was” (S. 20) / „I never said such a thing.“ ( S. 21)

Als dann noch der Satz fällt If you have eliminated the impossible… (ihr wisst schon wie es weitergeht), dann kommen lustige Kommentare von Mrs. Watson: Yes, I know / I’ve read The Sign of Four. (S. 141)

Wie es immer so ist, könnte diese Liste an Zitaten noch weitergehen. Jedoch soll an dieser Stelle nochmal verdeutlicht werden, dass mir die Anspielungen auf „falsche Einträge von Watson“, die Konversationen zwischen Holmes und Mrs. Watson und der Schreibstil, trotz einiger längeren Passagen und der schwierigen Wortwahl, gut gefallen hat.

Die Grundidee von Holmes Entangled von der Verbindung von der fiktionalen Welt von Sherlock Holmes mit der realen Welt von Conan Doyle ist aus meiner Sicht nicht nur innovativ, sondern ist auch sehr gut gelungen. Dazu zählen auch die Konversationen und der Einsatz weiterer Figuren wie Poe und Hemingway.

Man darf sich aber auch nicht von der Komplexität von Holmes Entangled täuschen. Nicht nur werden wissenschaftliche Theorien und Fachbegriffe verwendet, sondern auch das Grundthema einer Univers parallèle kann schwer verständlich sein. Ich musste (gerade am Ende des Romans) einige Absätze erneut lesen, damit ich die Ideen der meta fiction und die damit einhergehende Lösung verstanden habe. Ich weiß auch nicht zu 100%, ob ich es ganz verstanden habe.

Wie bereits angesprochen und erläutert hat mir die Beziehung zwischen Holmes und Mrs. Watson gut gefallen. Nicht nur, dass es Szenen der Melancholie (Dr. Watson) gab, sondern auch gemeinsame Verkleidungen, Mrs. Watson als „Unwissende“ oder auch Reaktionen auf Mycroft Holmes am Ende des Romans.

Weiterhin ist der mutige Einsatz des Holmes-Erzählers überwiegend gut gelungen, auch wenn die Komplexität des Themas da ein wenig im Weg steht. Aber aus meiner Sicht könnte so ein Holmes gesprochen haben. Doch besonders gut gefallen hat mir die Idee der misconceptions, der Idee, dass Watson an vielen Stellen der Abenteuer einfach falsch lag. Daraus macht sich Holmes nicht nur lustig, sonder McAlpine als Autor spielt mit dieser Idee im gesamten Roman.

“The Adventure of the Blanched Soldier” – ebenfalls ein Abenteuer aus der Perspektive von Sherlock Holmes

Auf der anderen Seite gibt es natürlich auch Kritik an Holmes Entangled. Mir haben in dem Roman deutlich die Deduktionen gefehlt. An vielen Szenen habe ich mir dann gedacht: das hätte doch ein Holmes deduzieren müssen! (Beispiel der Séance zusammen mit Mrs. Watson). Trotz der Erzählweise durch Holmes war mir die „Stimme“ von Holmes nicht authentisch genug. Ich wünsche mir keine Nachahmung von Watson’s Stil aber letztendlich war an einigen Stellen Holmes ein wenig fremd und es hätte auch ein anderer Detektiv sein können. Vielleicht ist damit auch Holmes’ Erläuterungen gemeint, dass Watson viel Falsches geschrieben hat? Etwas gewundert hat mich auch das große Interesse von Holmes an Philosophie, denn in Holmes Entangled gibt es viele philosophische Grundfragen (richtig vs. falsch; Wahrheit). Weiterhin hat mir der Einsatz des Prologs und des Epilogs durch Buenos Aires ein wenig fragwürdig hinterlassen. Klar, soll damit erklärt werden, dass ein neues Manuskript gefunden wurde, aber der Epilog geht da noch wenig weiter und es wird noch jemand erschossen… Und vielleicht als letzten Kritikpunkt könnte ich aus meiner Sicht noch die Enthüllung des Falls ansprechen, da mir dieser nicht im Mittelpunkt genug war. Es wurde erläutert und das war es. Gehen wir noch zum Diogenes Club und sprechen mit Mycroft…

Holmes Entangled ist anders und besitzt an vielen Stellen innovative Ideen. Das muss man aber auch mögen. Ich würde behaupten, dass Sherlock-Holmes-Puristen weniger Spaß haben werden als Sherlock-Holmes-Fans, denen es egal ist, was mit Holmes angestellt wird.

Auch die teils komplizierte Sprache macht den Roman nicht einfacher und die wissenschaftlichen Theorien sind vielleicht auch nicht Jedermanns Sache. Doch wie ihr bereits den Vor- und Nachteilen entnehmen könnt’, überwiegen für mich ganz klar die positiven Aspekte. Die Grundideen, die eingesetzten Figuren und deren Beziehung zueinander sind sehr gelungen, die Anspielungen durch den „falschen Watson“ häufig lustig und der melancholische Holmes gibt der Figur dann noch die letzte Tiefe. Wer aber eine typische Struktur einer Holmes-Geschichte sucht (ich sage nur Klient kommt 221B), der sollte sich eventuell einen klassischen Pastiche aussuchen, denn Holmes Entangled fühlt sich an vielen Stellen experimentell aber auch innovativ und frisch an.

> Kurzversion

+ fiktionale Welt mit Sherlock Holmes, gepaart mit realen Figuren (Doyle, Poe, Hemingway)

+ Verlauf und Steigerung des Plots spannend (habe das Buch relativ schnell durchgelesen)

+ Beziehungen zwischen den einzelnen Figuren tiefgründig (Witz, Tragik, Melancholie)

+ „Der falsche Biograf“ Dr. Watson: McAlpine spielt mit dieser Idee in dem gesamten Roman

fehlende Deduktionen im gesamten Roman

die „Stimme von Holmes“ nicht immer überzeugend

die Auflösung mehr in den Vordergrund packen

o Erzählstruktur von Holmes nicht für jeden Fan geeignet

o kein „klassisches“ Abenteuer im Stil von Dr. Watson

> Bewertung

   

(4 von 5)

 


Quellen:


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Cover dient nur zur Ansicht und wurde nicht verändert.

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