Der Krimi Mycrofts Auftrag wirkt bereits durch das liebevolle Cover und dem Schriftzug wie eine moderne Adaption und Interpretation des Detektivs Sherlock Holmes und seinem Biographen John Watson. Der Zusatz des Romans Ein Sherlock-Holmes-Krimi soll bereits ankündigen, dass es sich um eine eigene Interpretation handeln wird.

Worum geht es? Wer ist mit dabei? [Spoilerfrei]

Der Drogenkonsum von Sherlock Holmes spielt eine große Rolle. John findet Sherlock mit einer Spritze im Arm und als Doktor kommen ihm wieder Gedanken an einen Rückfall des Detektivs.

Hier der offizielle Klappentext:

Drei Jahre hatte John Watson gedacht, Sherlock Holmes wäre tot. Als er ihn wiedertrifft, verhält der Detektiv sich äußerst seltsam. Sind die Drogen Schuld? Bei einem Überraschungsbesuch in der Baker Street jedenfalls trifft John den Freund komplett zugedröhnt an.
Gibt es einen Zusammenhang mit dem brisanten Auftrag von Sherlocks Bruder Mycroft? Und was ist mit der attraktiven BBC-Reporterin Deborah Bellamy? Einmal mehr stellt der geniale Detektiv in diesem Fall voll schneller Wendungen selbst ein Geheimnis dar. (Oktoberverlag)

Wie der Beschreibung bereits zu entnehmen ist, kommen in Baums Interpretation neue Figuren hinzu, die sich in der Welt des Sherlock Holmes gut einfügen. Nennenswert wären an dieser Stelle Deborah Bellamy, eine äußerst attraktive Frau, die Sherlock umgarnt. Weiterhin gibt es Ethel Schafter (Pathologin–vergleichbar mit Molly Hooper aus der BBC-Serie)

Als größten Widersacher und Bösewicht agiert in diesem Krimi Adrianós  Morakis, Immobilienbesitzer und vermögend. In Zeiten der Wirtschafts- und Finanzkrise sind Immobilien ein spekulatives Instrument und es ergeben sich Möglichkeiten schnell an viel Geld zu kommen. An dieser Schnittstelle setzt die Autorin ihr Setting an.

Neben den bekannten Figuren Lestrade, Hopkins, Athelney Jones ist natürlich auch Mycroft mit an Bord (deswegen natürlich der Titel Mycrofts Auftrag), der Sherlock den Auftrag gibt. Die Vornamen der Figuren Lestrade und Hopkins wurden abgeändert (Guy Lestrade) und Hopkins sogar weiblich gemacht (Stacy Hopkins)Shinwell Johnson ist eine Figur aus der Kurzgeschichte The Illustrious Client.

Einordnung des Falls nach dem klassischen Kanon

Auch wenn das Buch in der Moderne spielt, lässt sich der Krimi, wenn man vom Kanon von Arthur Conan Doyle ausgeht, zwischen The Final Problem und The Empty House einordnen, da Sherlock auch hier drei Jahre verschwunden ist und urplötzlich wieder auftaucht. Als Sherlock und Mrs. Hudson zum ersten Mal aufeinandertreffen, erläutert Sherlock, dass es dieses Mal doch keine 3 Jahren waren (vgl. S. 77). Eine tolle Anspielung auf den dramatischen Tod in The Final Problem und der anschließenden Wiederkehr in The Empty House.

Auch die Dramaturgie findet Anknüpfung an den Reichenbach Fall, bei der Watson zu Sherlock erklärt: “Ich habe dich einmal verloren, ein zweites Mal wird es nicht dazu kommen.” (S. 114)

Ohne nun weiter den Inhalt zu spoilern, lässt sich bezüglich der Struktur sagen, dass der Fall mehrere Höhepunkte verzeichnet, die sich alle zu einem Finale am Ende des Buches zusammenführen.

Liebevolle Anspielungen

Das Buch zeichnet sich durch zahlreiche, liebevolle Anspielungen zu dem Kanon und der BBC-Adaption aus, die es als Sherlockianer oder als Kenner der Originalgeschichten, amüsant machen und von einem Krimi-Roman abheben.

Zahlreiche Details wie dem marokkanische Pantoffel (S. 17), “das Spiel geht los!” (S. 26), den Diogenes Club (S. 111) oder auch die Baker-Street-Bande (S. 126) machen das Abenteuer zu einem Sherlock-Holmes-Abenteuer.

Die Verkleidung und Schauspielerei nehmen einen großen Teil des Romans ein und sogar die Figur Shinwell Johnson aus Der Illustre Klient wird Teil dieser Maskerade. In seiner Verkleidung findet sich das ikonische Zeichen von Sherlock Holmes wieder, die hier als Jagdmütze bezeichnet wird (S. 74): Der Deerstalker!

Natürlich darf die Geige auch nicht fehlen, bei der John sich wünschte diese nach all dieser Zeit mal wieder hören zu dürfen (S. 81).

Ein Hauch von BBC Sherlock

Liest man die ersten Seiten, kommt in Kontakt mit den ersten Figuren, so machen sich bereits nach den ersten Zeilen die tiefe Stimme und schnellen Deduktionen von Sherlock und die sanfte Stimme von John in meinem Kopf breit. In dem Krimi werden sie, wie in der Serie, mit den Vornamen benannt (außer natürlich der Grand Dame Mrs. Hudson!).

Sobald Mycroft auftaucht, muss man sofort an größere, national-politische Probleme denken, die das Königreich Großbritannien in Gänze bedrohen. Dies ist auch in diesem Abenteuer der Fall, bei der aktuelle Themen wie die Wirtschafts- und Finanzkrise und der einhergehenden Immobilienkrise gut und glaubwürdig eingebunden wurden. Genau an dieser Stelle verlässt Baum die Serie und schafft durch die Struktur und den Verlauf der Geschichte etwas eigenes.

Die Leidenschaft von London

Als selbst leidenschaftlicher “London-Fan” merkt man schnell, dass sich Beate Baum in dieser Stadt auskennt. Wenn Sherlock und John unterwegs sind, werden unterschiedliche Straßennamen, U-Bahn-Netze detailliert beschrieben. Während des Lesens erkennt man die gängigsten Namen wieder und fühlt sich um so mehr in London wieder. Das tut der Glaubwürdigkeit des Romans sehr gut!

Dort macht sich der Beruf der Autorin bemerkbar, die als Reisejournalistin mit dem Schwerpunkt “Großbritannien” diese Kenntnisse perfekt einbinden konnte!

Ein wenig Kritik

Die mysteriöse Person der BBC-Reporterin Deborah Bellamy wird erst weit nach der Hälfte des Romans eingeführt (S. 123) und bleibt, trotz ihrer expressiven Art und ihrem pompösen Auftreten, zu blass und kann sich nicht genug entwickeln. Auch die Beziehung zu Sherlock bleibt ein Geheimnis. Watson merkt jedoch an, dass diese Beziehung zu einer Frau nur positiv ist.

Weiterhin fand ich, dass es trotz der zahlreichen spannenden Höhepunkte innerhalb des Romans, das Ende ein wenig abfällt. Der Leser (und dadurch John) wird nicht so sehr im Dunkeln gelassen und es bleiben keinerlei Überraschungen am Ende.

Fazit

Der Pastiche-Roman Mycrofts Auftrag von Beate Baum ist ein moderner Ausflug nach London mit den bekannten Figuren von Sir Arthur Conan Doyle.

Mir hat der Ausflug gut gefallen. Die Figuren waren sofort erkennbar (Stimme von Sherlock), die Erzählweise ähnlich (Sicht von John) und die bekannten Deduktionen waren immer wieder herrlich.

Am Ende des Romans kommt dann noch eine bekannte Figur aus “Die einsame Radfahrerin” vor, die beim Roten Kreuz arbeitet: Violet Smith. Gerade diese und zahlreiche andere Anspielungen und Details machen den Krimi zu einem glaubwürdigen Sherlock-Holmes-Krimi.

Wer die moderne BBC-Serie Sherlock liebt, wer Sehnsucht nach seiner Stadt London hat oder wer einen modernen Krimi mit aktuellem Thema sucht, der kommt hier auf seine Kosten!

   

(4 von 5)


Quellen:

Baum, Beate. Mycrofts Auftrag. Oktober Verlag, Münster.

PS: Vielen Dank für die Bereitstellung eines Leseexemplars seitens der Autorin und des Verlags.


Weitere Reviews findest du, wie immer, hier.

 

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